Neromun: »Für alles, was Gott ersetzen soll, müssen wir bezahlen«
Mit »Herz-, Blasen- und Darmschwäche« tritt Neromun auf, schleicht durch die Sonne von Berlin-Mitte und tastet sich auf seinem neuen Album »Blass« vorsichtig voran, statt vor den Kopf zu stoßen.
Bist du es leid, den weißen Jungs ihre eigene Welt zu erklären?
Ja, bin ich. Umgekehrt: Ich bin mir des Minderwertigkeitskomplexes bewusster geworden, der dazu führte, mich dahingehend zu profilieren. Im ersten Lockdown-Monat habe ich intensiv darüber nachgedacht, wie ich Kunst mache. Die Erkenntnis war, dass ich mich stark an weiße Angelegenheiten anbiedere und stets beweisen will, dass ich mindestens genauso clever bin wie weiße Dudes. Ich habe dann aufgehört, zu lesen. Nur noch Kunst, keine Theorie mehr. Ich habe angefangen, im Studio viel mehr zu freestylen. Auf meinen letzten Alben habe ich rational das beschrieben, was ich mit »Blass« praktisch umsetze. Also: Unmittelbarkeit, keine endlose Reflexion. Nicht jeder Text braucht mehrere Wochen, nicht jedes Wort muss tausendmal gewogen werden. Dadurch kommt es so rüber, als wollte ich den Leuten weniger Shit erklären. Aber eigentlich bin ich selbstbewusster geworden.
Das heißt, zuvor hast du beim Schreiben schon das Publikum mitgedacht?
Weniger die Hörer:innen, eher ein abstraktes Konstrukt, von dem ich dachte, dass es ein Ziel innerhalb dieser Gesellschaft ist. Eine Maxime. Dass man beispielsweise eine gewisse Deepness hat, dass jede Zeile Hand und Fuß hat und sehr viel Substanz dahinter ist. Eigentlich am Ende so, wie man Wissenschaft betreibt. So, wie man seit der Schule indoktriniert wird dazu, was im Erkenntnisgewinn richtig und falsch ist. Das war ein abstraktes Konstrukt dessen, was ich selbst für schlau gehalten habe. Das ist natürlich durch Sozialisierung bedingt – Was mir immer mehr auffiel.
Hat sich mit »Blass« dementsprechend auch deine Zielgruppe verändert?
Tatsächlich habe ich mir früher wenig Gedanken über mein Publikum gemacht. Slave L aka Lavish X, ein guter Homie, der viel an diesem Album mitgearbeitet hat, meinte irgendwann zu mir: »Was denkst du eigentlich, wer deine Musik feiert? Du willst jemanden, der Kanye und Margiela checkt, aber gleichzeitig Schopenhauer und Nietzsche gelesen hat.« Lavish X ist auch Halb-Ami, aber in den USA aufgewachsen. Da habe ich gemerkt: Meine Zielgruppe ist komplett random. »Blass« ist mit der Zielsetzung entstanden, dass ich Musik machen wollte, die man einfach sau gerne hört.
In diesen Kosmos passt auch der Hintergrund deiner Namensänderung. Auf Instagram hieß es, dein früherer Name wäre ein jugendlicher Witz gewesen, er sollte den Leuten im Hals stecken bleiben. Ein Name, »der nur fällt wie die Seife in der Dusche«. Hat das denn jemals geklappt?
Schlechter als erhofft. Ich war sehr schnell sehr fasziniert, wie das einfach für weiße Menschen einfach gar kein Ding ist, diesen Namen zu droppen. Es ist sogar passiert, dass Leute mich einfach nur »Negro« gerufen haben. Oder das auch immer noch tun. Als das anfing, war ich echt vor den Kopf gestoßen. Das hat mir schon sehr früh gezeigt, wie disconnected ich zu den Menschen bin, für die ich Musik mache. Also sogar zu denen, die meinen Scheiß feiern. Für die meisten Leute war das wohl kein Name, der nur fällt wie die Seife in der Dusche. Das ist ein spannender Fail. Was wiederum zu meiner gesamten Entwicklung passt: Immer knapp vorbei, es absichtlich nicht hinbekommen, eine eindeutige und kohärente Marke zu erschaffen.
Wie hat sich dein Selbstbild durch diese Überlegungen in der Produktion von »Blass« gewandelt?
Das klingt so hart, aber »Blass« ist einfach Schwärzer. Lavish X meinte wirklich: »Junge, du bist einfach so crazy weiß. Dein Style, die Art, wie du sprichst – Du verleugnest einen Teil deiner Blackness.« Alleine das Freestylen hat schon viel verändert. Da geht es speziell um die Blackness der Südstaaten, wo auch mein Background liegt. Dieses Atlanta-Ding: An einem Abend zehn Tracks machen, unmittelbarer Vibe. Es wird gar nicht konzeptuell rumgeeiert, sondern einfach Musik gemacht. Dadurch ist es relativ real. Dieses Album ist mein ehrlichstes.
Schon auf »Cuck« gab es deinerseits den Versuch, eine spezifisch afrodeutsche Perspektive zu eröffnen. Warum reichen die US-Vorbilder nicht, um deine Lebensrealität zu erzählen?
Es ist der große Struggle, mixed zu sein. Nirgends passt du wirklich rein. Die Community muss sich selbst gründen und selbstbewusst genug werden, um beide Teile in sich ordentlich auszudrücken. Ich finde tatsächlich, dass der afroamerikanische Ansatz die kapitalistischen Verhältnisse betreffend sehr produktiv ist. Das funktioniert vor allem über Oberflächen, darüber, einfach fresh zu sein. In der afroamerikanischen Community ist das ein großes Trauma: Sich vor seinen masters auf dieselbe Stufe zu stellen. Insgesamt ist es ein Ansatz, der mehr über das Wie funktioniert. Wie sieht etwas aus? Wie ist die Oberfläche? Nicht immer in die Tiefe denken und gehen. Dieser Ansatz hat die Welt übernommen: Die allermeisten Menschen tragen Kleidung, die auf HipHop referiert, auf Schwarze Kultur. Aus diesem Ansatz konnte ich etwas sehr Produktives ziehen.
»Deutschland hat es nach dem zweiten Weltkrieg verfehlt, eine neue und genuine Nicht-Nazi-Kultur aufzubauen.«
Der erste Track deines neuen Albums, »Siblings«, handelt primär vom ikonischen Status deiner Schwarzen Geschwister. Etabliert das eine neue Zielgruppe?
Kann gut sein. Ohne prätentiös klingen zu wollen, es ist so, dass ich nicht viel darüber nachdenke, wenn ich Songs mache. Ich hatte diesen Beat und habe meine Freundin rausgeschickt aus meinem Zimmer. Weil ich wusste: Gleich passiert was, was ich nur alleine abziehen kann. Weil es mir peinlich ist. Ich habe die Melodie gesummt, dann kam automatisch der Satz: »Meine Geschwister sind Ikonen«. So haben große Teile dieses Albums funktioniert. Ich habe nicht gedacht: Wow, ich schreibe jetzt eine Hymne für Schwarze Menschen in Deutschland, die für mich Ikonen sind. Alles, was man da hineininterpretiert im Nachhinein ist konstruiert, auch für mich. Das war wirklich ein Vibe-Ding.
Ich bin gedanklich noch öfter über das Wort »Ikonen« gestolpert. Eine Ikone, abstrahiert, ist ein Abbild eines Abbilds eines Abbilds, wird immer wieder kopiert und als Bild verehrt – ohne direkt auf ein Original zu verweisen.
Ich kann auch nur vermuten, was der organlose Körper wollte. Auf jeden Fall geht es um appropriation. Neunzig Prozent der Menschen, die man auf der Straße trifft, haben irgendetwas an sich, was Schwarzer Kultur entspringt. Das ist das Ikonenhafte. Schwarze Menschen werden unterdrückt, sind aber gleichzeitig Ikonen, zu denen man aufschaut, die man anschaut. Da geht es nie um die reale Einzelperson, sondern um die oberflächliche Außenwirkung.
2020 wurde der Kampf um gesellschaftliche Ikonen durch #BlackLivesMatter auch in historische Stadtbilder getragen, es gab Proteste gegen Denkmäler von Kolonialverbrechern. Ist dieser Satz auch Ausdruck des Willens, neue Ikonen einzusetzen?
Die minoritären Menschen in diesen extrem unterdrückenden Strukturen sind eigentlich diejenigen, die dieselben Strukturen am Laufen halten. Die Strukturen, von denen sie ausgeschlossen werden, würden ohne diese minoritäre produktive Kraft komplett stagnieren. Und auch das ist Empowerment: Auch wenn die eigentlichen Statuen und Ikonen in der Stadt weiße Kolonialverbrecher sind, wissen wir alle, dass Du du dort eigentlich stehen solltest. Wenn wir diese Bilder stürmen, fordern wir, dass sie durch richtige Ikonen ersetzt werden.
In den Konzepten der Hyperrealität gibt es den Begriff der »copy without original«. Künstler:innen wie Arthur Jafa und Aria Dean übertragen diese Denkfigur auf Schwarze Kultur vor dem Hintergrund des Kolonialismus.
Das habe ich tatsächlich noch nicht so bedacht, aber es passt. Die komplette Entwurzelung durch Schwarze Diaspora führt dazu, überhaupt nicht mehr zum Original zurück zu können. Auf diesem feindlichen Nährboden, den ausgrenzenden Strukturen, werden komplett neue Mythen und Riten erschaffen. Das ist crazy. Unsere gesamte Popkultur basiert auf dem Versuch Schwarzer Menschen, für sich selbst neue Kultur zu schöpfen. Weil sie komplett entwurzelt sind. Das wird total unterschätzt. Unsere Gesellschaft ist extrem leer, was Mythen, Riten und Vibes angeht. Für alles, was Gott ersetzen soll, müssen wir bezahlen. Unsere riesigen Stadien sind für Fußball da, alles ist mit Geld verbunden. Der gesamte Rechtsruck rührt in meinen Augen daher, dass die Leute keinen Anschluss an die eigene Kultur finden. Gerade Deutschland hat es nach dem zweiten Weltkrieg verfehlt, eine neue und genuine Nicht-Nazi-Kultur aufzubauen. Es gibt keine gesellschaftliche Erzählung, nur völlige Leere.
Deswegen sind die Deutschen auch so abgefuckt von Shishabars und all dem. Mein Stiefvater hat einmal versucht, mich zu provozieren, indem er sagte, es sei doch schon so, dass Deutschland sich abschafft. Ich sagte zu ihm: Du bist es. Du bist derjenige, der nicht in die Kirche geht. Du gehst nicht einmal mehr hier in die Eckkneipe, da sitzen jetzt nur noch drei Hardcore-Alkoholiker. Du willst doch auch lieber deine Cocktails in einer Bar trinken, die aussieht, als könnte sie in Palm Beach sein. Die Schwarze Kultur fängt das auf. Ich verstehe auch, wie die Deutschen den Islam als Bedrohung wahrnehmen. Ihr habt halt gar keinen Bezug zu Religion, gar keinen Bezug zu Dingen, die außerhalb von Produktion und Konsum stehen. Da werden Menschen, die ganz normal und öffentlich ihren Glauben ausleben, zum Untergang des Abendlandes stilisiert.
Die Ikone ist dazu zentraler Begriff des iconic turn, der geisteswissenschaftlichen Hinwendung zu Oberfläche & Bild, prominent angestoßen durch die Pop Art-Bewegung. Glänzender Schein statt schwerfälliger Theorie – Gilt das auch für »Blass«?
Andy Warhol hatte verstanden, dass es nicht mehr darum geht, auf 2000 Jahre europäische Geistesgeschichte zu referieren, um eine künstlerische Angelegenheit auszudrücken. Die kapitalistischen Verhältnisse haben den ikonographischen Wandel in erster Linie ausgelöst. Die Leuchtreklamen, die Oberflächen, die dich zum Kauf anregen. Warhol hat früh erkannt, wie subversiv Affirmation sein kann. Kapitalismus schafft endlose Reproduktion. Du kannst jetzt immer und überall McDonald's essen und es wird immer gleich schmecken. Also macht Warhol genau das als Kunst. Ein Bild, das tausendmal produziert und immer gleich schmecken wird. Ab da war auch klar, dass es zentral um Warhol selbst und seinen Vibe geht. Er selbst ist das ikonische Ding, nicht der Gehalt seiner Werke. Spätestens mit Rap wurde diese Tendenz krass offenbar. Es ging plötzlich nur noch um Personen, darum, dass die Person real ist, um die persönliche Erzählung – kurz: die Marke.
»Beim Sex beweist sich, ob du wirklich woke bist oder nicht.«
Deine Zeilen dienten in der Vergangenheit häufig dem Zweck, Leuten vor den Kopf zu stoßen. »Blass« hingegen wirkt an vielen Stellen instabil, gefüllt mit vorsichtig tastenden Beobachtungen statt vollendeten Tatsachen.
Die Zahl der geschlossenen Aphorismen ist gesunken. Dadurch, dass vieles Freestyle ist, vieles nicht unendlich durchdacht, wirken die Texte tastender und unsicherer. Es ist auch häufig der Versuch, reale Sachen poetisch zu erzählen. Der erste Part auf »Limbo« ist beispielsweise eine sehr persönliche Erzählung aus meiner Teenagerzeit: »Stehe auf, klaue etwas Tabak« – bei meinen Eltern. »Hänge noch am Kaugummi im Teppich« – Ich hatte so einen richtig ranzigen Teppich. Ich habe tatsächlich versucht zu vermeiden, andere vor den Kopf zu stoßen. Weil ich versucht habe, mich selbst zu erkunden.
Deine Texte offenbaren immer wieder eine gewisse Vorläufigkeit, etwa auf »Limbo«: »Diese Form ist nicht die finale«. An anderer Stelle wird der Wagen nur Test gefahren oder sich geweigert, Wurzeln zu schlagen.
Ich war in einer Umbruchphase. Die Instabilität ist aber auch der Grund, wieso ich für immer Musik machen kann: Ich gehe dorthin, wo ich selbst nicht ganz sicher bin. Dort, wo ich mich selbst noch überraschen kann. Jetzt bin ich an einem Punkt, an dem ich genug Selbstbewusstsein habe, um mich verletzlich zu machen. Um mein sich ständig veränderndes Wesen zu offenbaren, das aber auch nur in diesem Moment existiert. Ich bin in Gruppenchats dafür bekannt, jemand zu sein, der zwei Minuten tippt und dann wieder alles löscht. Dann sagen die anderen, sie haben eh schon gesehen, dass ich schreibe. Und ich sage: »New minute, new me – fuck you!«
Die Personen in deinen Texten befinden sich häufig nah an der Ohnmacht, in physischer Auflösung. Woher kommt dieses Gefühl?
Das führt wieder zu Deleuze und dem organlosen Körper. Wahrscheinlich habe ich die Identitätsfrage immer als Scherz betrachtet, weil ich nicht ganz weiß bin. Weil ich tatsächlich schon seit dem Kindergarten Probleme hatte, reinzupassen. Mit dem Älterwerden habe ich dafür gute Worte gefunden. Ich merke schon immer, dass mein Todestrieb sehr stark ist, wie Freud es sagen würde. Es ist besser damit gesagt, dass ich nicht ganz ich selbst bin. Dass ich Teile in mir trage, die versuchen, aus der Ich-Konstruktion auszubrechen. Und: Dass ich mich selbst unterdrücke und auch Teile habe, die das wollen. Weil es sehr schwer ist, die Vielheit zu performen, die man eigentlich ist. So geht es in meinen Texten häufig um Körper und Geist, die in dem Moment begriffen sind, in dem sie nicht mehr ganz sie selbst sind. In denen die Ohnmacht kommt oder das Unbewusste seinen Tribut einfordert. Das sind spannende Momente, in denen wir kleine revolutionäre Akte abziehen.
Auf »Telfar« rappst du: »Kein Ding, wenn du schwach wirst oder deine Knie weich, Kein Ding, wenn du schwarz siehst, sich die Augen hochrollen«. Auf die Schwäche folgt der kleine Tod. Wie entsteht diese Verknüpfung von Sex und Schwäche?
Sex ist der krasseste Schauplatz der Politik, dort wird es praktisch. Und es beweist sich, ob du wirklich woke bist oder nicht. Selbst, wenn man ganz klischeehaften und heteronormativen Sex hat und darin die traditionellen Rollen erfüllt, funktioniert Sexualität über weirde Momente. Augenblicke, in denen die Körper zerrissen werden, in denen der Körper in Stellungen gebracht wird, in denen er sich sonst nie befindet. Basic Sex wird dort heiß, wo man ausbricht – Es reicht schon, ein Bein nach oben zu nehmen. Kinks offenbaren, dass in der Sexualität andere Mächte intakt sind als die sozial konstruierten. Die gesellschaftliche Norm schreibt vor, als Hetero-Dude müsse sich deine Erregung auf Brüste, Arsch und Pussy beschränken. Aber sau viele Menschen haben beispielsweise einen Fußfetisch. Das ist total harmlos, aber du musst deine Sexualität komplett umkonstruieren. Die Gesellschaft sagt, das sei kein Ding, das du heiß finden sollst. Dein Unbewusstes sagt: Ist aber so.
Auf »Fall« leidest du an »Herz-, Blasen- und Darmschwäche«, auf »Persil« drehst du noch durch den Wolf. Das transportiert ein ganz anderes Körperbild als der sehr auf Stärke fixierte Rap-Mainstream.
Ein bisschen radical softness, oder besser: weirdness. Ich glaube, es gibt wenig Sex ohne Gewalt und wenig Gewalt ohne sexual arousal. Beides sprengt Körper auseinander, beides wirkt auf die Unversehrtheit des Körpers ein. Im Rap sind Gewaltdarstellung häufig graphisch und explizit. »Glock shoot a n****s dick off make him change genders«, die Line von 10cellphones habe ich vorhin gehört. Da sind tatsächlich ähnliche Vibes im Gange. Aber im Rap wird der eigene Körper gerne zu einem unsterblichen, unfickbaren Monument hochstilisiert. Aber ich glaube, auch das ändert sich immer mehr. Etwa Tyler, The Creator und Earl Sweatshirt, speziell denke ich an das Video zu »Earl«, 2010 erschienen. Earl Sweatshirt zieht sich einen Fingernagel heraus. Das ist noch nicht mal brutal, aber da passieren kleine abjekte Sachen, plötzlich fällt ein Zahn aus und ins Essen. Er fährt sich durch die Haare und ein Büschel löst sich. Der Körper befindet sich in diesem Video in Auflösung.
»Schmuck führt dazu, dass man für sich selbst mehr wird. Mehr Ikone, mehr Puppe, mehr Oberfläche.«
Bei physischer Schwäche gibt es auf »Telfar« dann lebenserhaltende Maßnahmen: Sanitäter, Salz und Ketamin. Ist das auch ein Gefühl, ständig auf Mittelchen angewiesen zu sein, um mithalten zu können?
Der Grund für die Blässe und Aufgeregtheit ist hier eine Orgie. Da ging es mir eher darum, Ohnmacht und Ketamin zusammenzubringen. Das ist schon auch ein Mithalten, aber eher: Man fließt eh schon auseinander und gibt sich noch eine Droge, die dich komplett sprengt. Das Problem ist ja: Die Brust ist enger als ein Grab. Die ganze Konstruktion deines Körpers wird eng. In dem Moment, in dem dein Unbewusstes ankommt und raus will, wirst du neurotisch und ziehst dich noch enger zusammen. Man tut so, als wäre das die Medizin, aber sie lässt dich noch weiter zerrinnen.
Auf »Score« heißt es dann eben auch, dass du ohne den Druck zusammensackst wie Astronauten. Der Körper wird also im schwebenden Rausch nur durch äußeren Druck zusammengehalten?
Bei dieser Zeile ist das Korsett tatsächlich ein gesellschaftliches. Da ist es umgekehrt: Ich ziehe mein Korsett aus, lasse los und zerfließe jetzt. Kaum Schwerkraft gewohnt, so wie Astronauten, die zurück zur Erde kommen und Muskelschwund haben. Dann kommen in der Hook auch keine Worte mehr. Nur noch Vibe, beyond words. Das Auseinanderfließen-Wollen, das High-sein-Wollen, das Kein-Fick-mehr-geben-Wollen macht das tatsächliche Leben in dieser Cuck-Konstruktion aus. Das ist aber ein Balanceakt, denn wenn du das Korsett ablegst, fällst du eben wirklich auseinander und es gibt keinerlei Sicherheitsnetze mehr. Wir haben genug Leute in unserer Gesellschaft, die obdachlos oder drogenabhängig sind, die wirklich gefallen und auseinandergesprengt sind.
In »Leckma« treten einerseits diejenigen auf, die »am längst leeren Becher nippen«. Und Kellerkinder, die sich auf »Hochparterre und Penthouse« wähnen.
Das ist zwar bildlich schwanger, aber nicht mit eindeutiger Intention geschrieben. Gerade die Lines im Part sind reale Ich-Zeilen. Um zurück zum Anfang zu kommen: Ich meine das gar nicht so metaphorisch, schreibe aber so. Mir geht es ganz direkt darum: Ich bin diese Person. Eigentlich eine Selbstzerfleischung meines neuen Vibes. In der Hook hatte ich diese Leute im Kopf, die halt wirklich auf der Party stehen und noch einen Schluck nehmen, obwohl sie wissen, dass der Becher längst leer ist. Vielleicht auch noch drei Euro in der Tasche, aber mit dem Wissen, das nächste Bier ist das letzte.
Und trotzdem präsentieren sich alle wie Luxus und Erfolg, tanzen auf derselben Party. Auf »Persil« gibt es noch die Kids, die sich die »Augenringe VVSen«. Das ist doch genau die glänzende Oberfläche, die von keiner Substanz mehr gestützt wird.
All diese Interpretationen funktionieren. Aber selbst die Hochparterre-Line war auf mich bezogen: Ich wohne gerade in einem schönen Zimmer im Hochparterre. Ich brauche zu viel Rouge, weil ich mit der Farbe meiner Haut gar nicht rot werden kann. Ich nehme den letzten Nicht-Schluck. Dieser Vibe ist auf minoritäre Menschen gemünzt. Da ist es so: Man bekommt einen Knochen zugeworfen und nimmt den super dankbar auf. Man tut so, als hätte man ein geiles Steak bekommen, an dem man für immer essen kann. Aber eigentlich wurde man abgespeist mit dem wenigsten.
Auch du trägst auf »Blass« immer wieder Schmuck, besonders Ketten nehmen eine zentrale Rolle ein. Sie verschmelzen mit der Brust oder gleich mit der ganzen Identität, auf »Red Apple« prügelst du dich mit dem Schmuck selbst.
Ketten sind ein Thema, auf das ich im Freestyle schnell komme. Weil ich mir um die tiefe Substanz dieses Wortes bewusst war, bin ich nie gedanklich dahingegangen, das für mich auszuformen und zu konstruieren, was es damit auf sich hat. Ketten sind Objekte, mit denen man flext, mit denen man aber auch angekettet ist. Und: Das Tragen von Schmuck, Schminke, Ketten erweitert den Körper. Das sind Dinge, die sich an den Körper anschließen und ihn automatisch aus seiner Konstruktion herausbrechen. Schmuck führt dazu, dass man für sich selbst mehr wird. Mehr Ikone, mehr Puppe, mehr Oberfläche.
Auf »Red Apple« rappst du auch, du schreibst »Pulp Fiction«. Bleibt all das also nur billige Fantasie?
Sicher. Das ist einfach der wahnsinnige und weirde Innenraum meiner Selbst, in den ich einlade. Sympathische Bescheidenheit.