Grim104: »Aus dem eigenen Leben berichten, wen juckt das?«
Jedes Imperium geht einmal unter, doch Grim104 schreitet unbeirrt durch die Zeitgeschichte. Mal in Dangast, mal in Sorong, mal am Brandenburger Badesee. Hier im Bürgerpark Pankow zum Interview.
Wie viel ist dein Outfit wert?
Äh... Die Hose... Soll ich das ernsthaft machen? Die Schuhe sind geschenkt, von einem namhaften Turnschuhhersteller. Die Hose ist von Prada, die habe ich bei Ebay gekauft, dementsprechend war sie günstig: 100 Euro. Das Hemd ist von Saint Laurent, das hab ich... Interessant, während ich das ausspreche, merke ich, dass ich mich schäme.
Weshalb?
Ich möchte es haben, ich möchte, dass es Leute erkennen, aber ich möchte nicht damit angeben. Ich war gestern auf dem Ku'damm. Da wurde so eine Umfrage gedreht, ich habe an diese Videos gedacht – und reflexartig im Kopf addiert. Vielleicht könnte ich da mitspielen. Naja, die meisten teuren Sachen kaufe ich gebraucht. Ich bin ein kostenbewusster Angeber. Und wenn sie ihren Soll erfüllt haben, verkaufe ich die Sachen weiter.
In »Voo Store« rappst du von Minderwertigkeitskomplexen beim Anblick der Instagram-Accounts junger Rapstars.
Wo haben die denn auch die ganze Kohle her? Geben die den Dior-Kram nach dem Foto zurück bei Farfetch?
Mit »Imperium« hast du vor kurzem dein bislang persönlichstes Album veröffentlicht. Hast du dir damit schwergetan?
Ganz lange habe ich mit meiner Meinung und meinem Wesen gerungen. Gerade in Bezug auf die Musik stand ich mir selbst im Weg, weil ich dachte: Aus dem eigenen Leben berichten, wen juckt das? Es muss halt immer doll sein. »Graf Grim« ging aus einer für mich sehr anstrengenden und traurigen Lebensphase hervor. Da wollte ich auch keinen Realtalk betreiben, dafür schätze ich die Privatsphäre doch zu sehr. Das Uncoolste waren für mich immer Leute, die übers Älterwerden rappen. Ihr seid doch keine 70! Und selbst wenn.
Heute rappst du selbst übers Älterwerden.
Irgendwann konnte ich erkennen, dass ich eigentlich ganz okay bin, wie ich so bin. Dass ich nicht für die Fans oder für Twitter so mehrere Fassaden aufrechterhalten muss. Natürlich läuft meine Musik durch einen Kunstfilter, nicht immer ist jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Aber festzustellen: Ich bin schon ganz in Ordnung – das hat Wunder bewirkt. Selbst, wenn das Leute blöd finden, das sind ja nur Geister im Internet.
Erst warst du Frosch, dann Vampir – jetzt Mensch?
Diese Metamorphosen hat's einfach nicht mehr gebraucht. Es ist natürlich Realtalk, wenn’s heißt: »Meine Therapeutin sagt, ich bau 'ne Panzerung auf«. Dass man sich so versteckt hinter dem Missoni-Pullover oder tausend Kunstfiguren. Die Akzeptanz mir selbst gegenüber war ein wichtiger Schritt, den ich in den letzten Jahren gegangen bin. Ich habe es endlich geschafft, mich aus der ewigen Selbstbetrachtungsrolle zu lösen, in der ich meine Kunst anschaue und sage: Hey, das ist aber nicht so cool. Ist doch Quatsch, ich bin schon in Ordnung. Und kann auch einen guten Song aus einem Thema ohne Swag machen.
Was ist denn damals am Strand von Dangast passiert?
Eine große Schlägerei auf der Abiparty eines lokalen Gymnasium, entsponnen aus einem Konflikt zwischen Punkern und Hoppern. Ich stand damals auf der Seite der Punker. Ein Haufen Leute, jeder hat auf die Fresse bekommen, wirklich endlos. Das hat sich über den ganzen Abend gezogen, wurde immer wieder neu entfacht. Für mich war das eine Asterix-artige Rauferei, geil und rauschhaft. Andere haben sicher wesentlich schlechtere Erinnerungen an diesen Abend. Im Nachhinein sind das Geschichten, bei denen ich mir denke: Was für’n Quatsch.
Und dann erwähnst du noch Sorong. Das ist ein bisschen weiter weg als Dangast.
Sorong liegt in Westpapua, dem von Indonesien besetzten Landesteil der sehr großen Landmasse Papua. 2018, noch bevor wir »10 Jahre Abfuck« gemacht haben, habe ich dort eine aufregende Reise unternommen. Und hatte das Bedürfnis, noch weiter in den Sonnenuntergang zu verschwinden. Ich wollte einfach weg sein. Nicht wie Fler, »nächstes Jahr bin ich in Miami«. Sondern wirklich weg, keine Lust mehr auf Musik, keine Lust mehr auf Deutschland. Einfach dort ansiedeln, irgendwas arbeiten und verschwunden bleiben.
Was hat dich nach Deutschland zurückgebracht?
Die Aufnahme bricht ab. Und setzt erst 20 Minuten später wieder ein, als wir den technischen Fehler bemerken. Wir beschließen, die besprochenen Themen ruhen zu lassen: Desinteresse an der deutschen Filmhistorie, gesteigertes Interesse an Grim104s Lieblingsfilm »Ghost Dog«, Glück ohne Swag und Profanität des Erzählten, all das ist nun nichts mehr wert. Wir gehen ins Radio.
In »Honda Legend 99« sprichst du von DJ Mad auf NJOY, von der Liebe zu Rap. Als bleicher Bub in Zetel hattest du sicher ganz andere Erfahrungen als US-Rapper der späten Neunziger. Welche Emotion hat dich mit diesen Tracks verbunden?
Das Schöne daran, nicht alles zu verstehen, ist sicher, dass man sich nicht angesprochen fühlt, wenn’s gerade um Buben in Zetel geht. Ich glaube, sowas findet einen einfach. Wenn du mit elf Jahren Rap-Fan wirst, was begeistert dich? Ich kann’s nicht sagen.
Im Nachhinein kann man psychologisieren: Entfremdung, Aggression, Rebellion.
Bei meiner Oma in Holland habe ich zum ersten Mal ein Video von Eminem gesehen, »My Name Is«. Das war so besonders und verständlich für mich. Aus irgendeinem Grund hat diese Musik mein Herz ergriffen.
»Auch das ist Teil der neuen Nacktheit: Man gibt nicht immer eine gute Figur ab.«
Wenn du jetzt Interviews im Radio gibst und aktuelle Hits hörst, kannst du diese Begeisterung noch spüren?
Selten. Auch das zuzugeben, wäre mir vor nicht allzu langer Zeit noch super unangenehm gewesen. Da muss man dann so sagen: »Jaaaa, ich feier das immer noch meeegaaa. Shababs… Botten!« Im Deutschsprachigen wird’s echt dünn. Shindy kann ich mir gut anhören, das ist aber schon ein gesetzter älterer Herr. Da bewundere ich den Anspruch und das hohe Maß an Perfektion. Ansonsten… Ich sitze auf jeden Fall nicht freitags da und denke: »Geil, der neue Kalim-Banger ist draußen!« Dafür merke ich, dass ich endlich bereit für gewisse US-Sachen bin, die ich früher nicht wertschätzen konnte. Kendricks Stimme habe ich früher gehasst, das neue Album finde ich sehr interessant. Aminé mag ich sehr, auch Vince Staples. Das ist natürlich alles Dad-Rap. Musik, die so weiße Typen Mitte 30 geil finden und denken, sie sind damit am Puls der Zeit. Früher habe ich aber nur El-P, Aesop Rock und Wu-Tang Clan gehört.
Bei El-P bedienst du dich für das Lied »Das Versprechen«, beinahe eine genaue Kopie von »For My Upstairs Neighbor«.
Der zweite Teil, ja. Es ist auf jeden Fall nicht das erste Mal, dass ich mich eindeutig an Vorbildern bediene. »Abel '19« ist eine direkte Entlehnung von Ludwig Hirsch, mein Part auf »Echte Männer Freestyle« ist eine Übersetzung von Billie Eilishs »bad guy«. Keine Ahnung, all art is borrowed. Die erste Strophe von »Das Versprechen« ist allerdings Realtalk. Für mich haben die Songs von El-P etwas Assoziatives, Stimmungsvolles. Ich höre das, ohne mich genau zu kümmern, was da besprochen wird. »For My Upstairs Neighbor« habe ich gerade dann gehört, als diese Geschichte für mich ein Thema war, als ich mich geärgert habe, dass ich nicht damit umgehen kann, mich doof fühle. Ein weirder Moment, weil ich den Song erst da wirklich verstanden habe.
Das Lied finde ich vor allem interessant wegen der Waage zwischen fremdem Leid und eigener Verantwortung. Machst du dir dazu im Vorfeld Gedanken?
Nicht beim Schreiben, aber wenn es an die Veröffentlichung geht. Dann wird einem nochmal klar: Ja gut, das ist wirklich keine Heldengeschichte. Ich trete ja nicht die Tür ein, schlage den Typen tot und rette die Frau. Sondern: Ja, ich rufe halt die Polizei… und das war’s dann wieder. Auch das ist Teil der neuen Nacktheit: Man gibt nicht immer eine gute Figur ab. In der Summe des Lebens gibt es Heldenhaftes, Feiges und viel dazwischen.
Ich frage mich: Wo ist die Grenze, an der ein Song wie dieser von Selbstanklage zur Ausbeutung des Schicksals dieser Frau übergeht?
Ich weiß es nicht und finde das schwierig. Das Problem entsteht bei jeder Geschichte, die nicht meine eigene ist, etwa »Oranienplatz« oder »Junge Römer«. Diese Themen finden genau vor unserer Haustür statt, in einer Gegend, in der ich zum Feiern ausgehe. Es stimmt, ich kann nicht aus Erfahrung sprechen, aber aus Empathie. Sich in eine Rolle einzufinden, mitzufühlen und darüber nachzudenken, das ist eigentlich etwas sehr Wichtiges. Die Vorstellung, jeder dürfe nur aus seiner Position, aus seinem Erleben erzählen, klingt nur im ersten Moment logisch und progressiv. Auf lange Sicht tut das Kunst nicht gut.
Auch in »Komm und sieh« stellst du dich in die Verantwortung, wenngleich die dort erzählte Kulturgeschichte deine Identität transzendiert. War es wichtig, dir den Stiefel selbst anzuziehen?
Wenn man ein Auge dafür hat, ist es Wahnsinn, wie sehr man von diesen Kontinuitäten umgeben ist. Wie allgegenwärtig das deutscher Erbe ist. Da vorne, wo wir mit dem Auto entlang gefahren sind, ist eine Werkstatt für behinderte Menschen, in der man sein Fahrrad günstig reparieren lassen kann. Vor einer Weile war ich dort und schaue zur Seite, da hängt eine kleine Emailletafel, auf der steht, dass hier von 1942 bis 1945 das Tuch hergestellt wurde, aus dem die Judensterne für Osteuropa geschnitten wurden. Diese Stoff- und Farbenfabriken gab es die gesamte Panke entlang.
Ich habe »Komm und sieh« als Gedächtnisbild wahrgenommen, in dem Vergangenheit und Gegenwart wahnsinnig dicht und unmittelbar ineinandergreifen.
»Komm und sieh« ist für mich am schwierigsten zu erklären, alles basiert auf diesem Gefühl: Ich fahre mit dem Zug nach Brandenburg an der Havel durch kleine Birkenwäldchen, in denen Menschen erschossen wurden. Und am Badesee liest du Infotafeln über Todesmärsche. Gestern war ich bei DM, dort hat sich eine sehr alte Frau eine Payback-Karte ausstellen lassen. Sie sagte da, sie wurde 1936 geboren. Neun Jahre alt, als das dritte Reich unterging. Schon ein richtiger Mensch. Kein fertiger, aber ein Mensch, der sich erinnern kann. Früher bin ich mit meinen Kumpels immer auf dem Fahrrad rumgeeiert. Mit 15 Jahren haben wir auf eigene Faust entdeckt, dass es im Nachbardorf Neustadtgödens einen jüdischen Friedhof im Wald gibt, komplett zugewuchert. Diese Geschichten umgeben uns durchgehend – und trotzdem ist man so weit davon entfernt.
Mir fallen wenige Deutschrap-Songs ein, die so spezifisch deutsch sind.
Auch das ist etwas, wogegen ich mich ewig lange gesträubt habe. Du hast in den verlorenen 20 Minuten gefragt, wo denn der Swag ist. Da natürlich nicht. Der Song hat keinen Vibe, macht nicht happy und tröstet auch nicht. Wie schade drum, dass dieses Thema existiert, aber keine Musik darüber geschrieben wird, weil die Leute sich denken: »Ach, ist zu uncool.«
Jetzt haben wir so viel über die entfernte Vergangenheit gesprochen. Ich will aber nochmal zurück zu »Honda Legend 99«. Du erzählst von einem alten Handy mit den Nummern von Verstorbenen in der Mittelkonsole deines Autos.
Mittlerweile sind es zwei Handys, von denen ich mich nicht trennen kann. Ich könnte auch alle Daten in die Cloud laden, das wäre aber nicht dasselbe.
Hältst du dir gerne diese Tore zur Erinnerung offen?
Bestimmt. Ich bin einfach kein guter Wegwerfer mit starken emotionalen Bindungen zu Dingen, bei denen andere sagen: »Hä, weg damit!« Im Flugzeug von Makassar nach Sorong gab es ein Papaya-Gelee als Nachspeise. Da habe ich mir so einen kleinen Plastiklöffel aufgehoben, noch eingeschweißt. Oder meine Oma, die hat mir zwei Gläser mit Schmetterlingsaufdruck hinterlassen, sonst nichts. Wenn ich die jetzt wegschmeißen würde… Aber warum sollte ich? Das hat keinen Sinn.
Dürfen die Wunden nicht heilen?
Das sind keine Wunden, kein bedrückendes Gefühl. Ich bin über die Trauerarbeit hinweg. Ich mag es einfach, über die Vergangenheit nachzudenken. Historizität, die mich umgibt. Sachen in ein neues Leben mit hinüber zu nehmen. Das bedeutet mir viel.