»Ich komme aus dem Nichts
und ich gehe in das Nichts
Und dazwischen ist ein Aschenbecher«
– NMZS & Danger Dan, »Schöner Aschenbecher«, Oktober 2012
In seinem 1993 posthum erschienenen Essay »Flaschen« widmet sich der Medienphilosoph Vilém Flusser der Frage, was denn mit all den gläsernen Gefäßen passiere, sobald der Sekt leer ist. Entweder man stellt sie hin, rein dekorativ, als leere Form und leere Floskel, stellt sich selbst betrachtend davor, kontemplativ, die Flasche wird zur aufgehobenen Kultur, ihrer Substanz entleert. Oder aber man ändert ihre Funktion: Die leere Flasche wird zum Kerzenhalter, zum Aschenbecher, oder neuerdings, sehr zum Leidwesen jedes guten Geschmacks, auch zum Seifenspender. Der Mensch nimmt sich des Objekts an, wandelt es um, jeden Tag eine revolutionäre Tat. Oder man findet sich damit ab, dass die Flasche weggeworfen wird, wenn nicht sofort, dann später, und sie wird zu Scherben und der Mensch, der diesem Bruch gegenübersteht, kann sich bloß trösten, indem er die nächste Flasche öffnet und trinkt.
Die Scherben jedoch wollen vergessen werden, werden zu Vergangenheit und drängen als solche stets wieder zurück in unsere Gegenwart. Sie sind deformiert und entwertet, trotzdem liegt er überall herum, der Müll, wird unausweichlich. Vielleicht hat sich schon bemerkbar gemacht, dass die Flaschen auch symbolischen Charakter gewinnen. Vilém Flusser selbst bringt im Aufsatz den längst unnütz gewordenen und leeren Nationalismus ins Spiel, der wie als Scherbenhaufen überflüssig geworden ist, und dennoch von der Natur unverdaulich bleibt. Inmitten des sich anhäufenden Mülls unserer Kultur beobachtet Vilém Flusser Menschen, die beginnen, »in dieser Flut von Dreck sich wohlig zu wälzen«. Sie veranschaulichen deutlich, wie die stets als Vergangenheit verdrängten Scherben »an unerwarteten Orten wieder auftauchen können, um uns die Füße zu zerschneiden«.
Auch der Protagonist des Liedes »Nie mehr zurück« von NMZS und Danger Dan tritt in einen Scherbenhaufen. Sogar verdeckt war er, durch Altpapier, und drängt sich durch Papier und Haut zurück in die Gegenwart. Auch wenn dieses Outro zum 2012 erschienenen Free Download-Album »Aschenbecher« einen Aufbruch darstellt, das Aufräumen mit Verdrängtem und den Beginn einer neuen Lebensphase, ist es doch genau so, dass die Antilopen Gang-Mitglieder auf den restlichen zehn Songs, die zu diesem Punkt führen, das Leben im Scherbenhaufen, im Aschenbecher, im sich anhäufenden Abfall zelebrieren. Sie wälzen sich wohlig in den Scherben ihres Lebens, doch ebenso in denen der Kultur, der Gesellschaft und der Geistesgeschichte.
Ein Blick in die Veröffentlichungen des Jahres 2012 verraten schon, warum Danger Dan und NMZS zu dieser Zeit eine Antithese zum Mainstream darstellten: Für Cro war das Leben »Easy«, bei Deichkind war alles »Leider Geil«, Célo & Abdï sprachen »Hinterhofjargon« und Haftbefehl »Kanakiş«. Kollegah besaß schon seit 2011 die »Bossaura« und Casper hatte mit dem höchst emotionalen »XOXO« bereits alle Genregrenzen niedergerissen, um sich mit dem Teenie-Hype konfrontiert zu sehen. Deutschrap war 2012 endlich wieder auf dem aufsteigenden Ast, nur Danger Dan und NMZS blieben im Schlamm. Zum Glück, denn ein erfolgreicher Mainstream braucht den radikalen Untergrund als Antithese umso mehr.
Was die Szene antrieb, macht sich auf »Aschenbecher« meist nur durch seine Abwesenheit bemerkbar: Geld, Liebe, Lebenslust, Ruhm und Selbstverwirklichung. Besonders die gestählten Muskeln eines Kollegahs sind im Kosmos von NMZS und Danger Dan undenkbar: Der Körper befindet sich in ständigem Zerfall. Die Atemwege verklebt und die Lunge schwarz vom Rauchen, verfaulen langsam die Zähne, Teerklumpen werden ausgespuckt, Schweißporen öffnen sich, Pilze wachsen im Intimbereich. Als wäre das nicht genug, werden die Leiber noch von außen malträtiert: Kaugummi in die Haare, verkalktes Leitungswasser in den Schlund, Brandwunden von den Zigaretten, blutige Blessuren vom Fall auf den Schlüsselbund und Träume von »fleischfarbenen Greifarmen, die auf mich einschlagen, die Überreste einsammeln«.
Der Verfall findet nicht nur physisch, sondern auch geistig statt: Das Stück »Schade« entbehrt jeder Konzentration, bloße Assoziationsketten halten die Zeilen zusammen. »Ich weiß gar nicht, worum’s geht«, heißt es im Refrain. Und in »So ungefähr« erscheint »die Freiheit, alle Bücher nicht zu lesen und zu chillen« als Quintessenz der Dialektik der Aufklärung. Weil die Welt um NMZS und Danger Dan längst gänzlich zum Aschenbecher wurde, in dem sich bloß die abgenutzten und verbrannten Überreste stapeln, treiben die Rapper den Zerfall weiter voran – bis sie selbst als Müll erscheinen, als thing among things. Sie fühlen sich heimisch »zwischen Kippenstummel und Pizzakrümel / und ungeöffneten Briefen / zwischen den Rechnungen liegengebliebenen Kaffeetassen, die schimmeln«.
»Aschenbecher« wendet sich vollends ab von den geistigen Gehalten des Szene-Mainstreams. Statt »Du kannst alles schaffen«-Mindset bleiben die Rapper am Boden liegen, statt Conscious-Rap mit Message werfen sie Sinn und Moral über Bord. Statt großen Emotionen bleiben sie kalt und tragen tausend Masken. Statt die Welt zu bereisen, wird hier die kleinste Alltagsaufgabe zur unüberwindbaren Hürde. Wenn also die Antithese zum Mainstream einst war, sich im Scherbenhaufen der Gesellschaft zu wälzen, bis selbst das Ego ein Teil desselben wird, wenn es galt, alle charakterlichen Eigenschaften der damals in der Szene erfolgreichen Erzählungen umzukehren und querzustellen – dann müssen wir uns heute ernsthaft die Frage stellen, was im Deutschrap noch als Untergrund gelten darf. Eins ist sicher: Die entsprechende Playlist auf Spotify ist es nicht.
Ein knappes halbes Jahr nach dem Release von »Aschenbecher« nahm sich der schwer an Depressionen erkrankte Jakob Wich alias NMZS das Leben. Und Danger Dan kehrte später bloß einmal zurück in den Aschenbecher, genauer: Ins »Abwasser«. Auf dem 2015 erschienenen Mixtape findet sich der Track »Chocomel und Vla«, in dessen letzter Strophe Danger Dan sich noch einmal die allumfassende Verwertungslogik des Neoliberalismus vornimmt, der er sich mit »Aschenbecher« so überzeugend zu entziehen versuchte. Im HipHop sei es nie um Befreiung oder Widerstand gegangen, behauptet er. Im Gegenteil, selbst »die Jungs in Harlem wollten nur [...] etwas besser ausgebeutet werden, als sie es wurden«. Wie – die Treacherous Three, Kurtis Blow und Doug E. Fresh waren keine Kommunisten?
Doch die Jungs in Harlem wissen genau, wie es ist, gesellschaftlich als Abfall angesehen und verdrängt zu werden. Ihre Erfolgsgeschichte ist auch das Wiedereintreten in eine Gegenwart, von der sie längst als Vergangenheit abgeschrieben wurden. Und natürlich weiß Danger Dan auf seinem überaus erfolgreichen Album »Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt« zu berichten, dass am Ende die Welt verglüht und alles zu Scherben und Staub zerfällt. Jedoch: »Das Dilemma, dass wir schon das Ende kenn'n / zwingt uns ja nicht dazu, es hier nicht schön zu finden«. Raus aus dem Aschenbecher, hinein ins gute Leben. Denn schlussendlich plädiert auch Vilém Flusser angesichts des wachsenden Scherbenhaufens für einen »nachgeschichtlichen Hedonismus«: Was auch immer der Sekttrinker tut, »früher oder später wird er sich an den Flaschenscherben schneiden. Aber jetzt kann er trinken.« L’chaim!