009: NICHT MEHRHEITSFÄHIG
Wenn ich schon grad Kolumnen schreibe, dann mit Spürnase, die da ansetzt wo's ätzt.
»Währenddessen verbrennt ein Negroman im Zellentrakt
und der sah aus wie ich
Genau wie ich, genauer betrachtet schon seltsam«
– Neromun, »Garfield«, September 2019
Im Juni 2020 ließ auch Friedrich Merz von der CDU erneut verlauten, was die Konservativen in Deutschland jedes Mal gebetsmühlenartig herunterbeten, wenn es jemand wagt, über Rassismus im globalen Zusammenhang zu sprechen: »Ich halte es für unzulässig, die Bilder aus Amerika eins zu eins auf Deutschland zu übertragen«, sagte er im Kontext der Debatten um #BlackLivesMatter und des Mordes an George Floyd. Merz zufolge gebe es »auch keinen latenten Rassismus« bei der deutschen Polizei. Wer schon mal Kontakt zu Polizist:innen hatte, kann diese Aussage zwar erfahrungsgemäß widerlegen – dennoch bleibt die Annahme, Rassismus in Deutschland sei nicht mit dem in den USA vergleichbar, wie eingebrannt im Diskurs dieses Landes.
Einen direkten Vergleich wagte Neromun auf seinem 2019 erschienenen Album »Cuck«. Ausgehend von einer Zeile Frank Oceans, in der dieser dem 2012 in Florida ermordeten Trayvon Martin gedenkt, erkennt sich der Rapper in Oury Jalloh wieder, der 2005 bei einem Brand in der Zelle des Polizeireviers Dessau-Roßlau ums Leben kam. Der Todesfall wurde durch die deutsche Justiz nie hinreichend aufgeklärt, abweichend von den Urteilen in verschiedenen Prozessen deuten alle Hinweise auf vorsätzlichen Mord. Während der Mord an Trayvon Martin und der Freispruch seines Mörders in den USA die #BlackLivesMatter-Bewegung zur Folge hatten, streitet Deutschland weiterhin darüber, ob und wie Polizist:innen vielleicht und eventuell überhaupt rassistisch sein könnten. Und im linksliberalen Spektrum fragt man sich, wie es überhaupt sein könne, dass Mordfälle wie der von Oury Jalloh nicht aufgeklärt werden.
Im August diesen Jahres hat der Vorstand der SPD im Landtag von Sachsen-Anhalt beschlossen, nicht für einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu stimmen – obwohl 2020 noch Gegenteiliges behauptet wurde. Die Begründung: Der Bericht zweier Berater, die 2017 beauftragt wurden, ergebe keine neuen Anhaltspunkte für eine erneute Untersuchung des Mordfalls Oury Jalloh. Die beiden Berater, Jerzy Montag und Manfred Nötzel, hatten jedoch keine Befugnis, Vorladungen vorzunehmen. So konnten alle sieben Justizbeamten, die in den Fall involviert waren, die Aussage verweigern – gestützt durch die CDU Sachsen-Anhalt sowie das CDU-geführte Justizministerium des Bundeslandes.
Die AfD setzt sich naturgemäß schon seit 2017 gegen eine weiterführende Aufklärung ein und warf 2018 Demonstranten vor, seit Jahren die Arbeit von Justiz und Polizei zu diskreditieren. Warum sollten sie dies auch nicht tun? Schließlich ist seit Jahren klar, dass Polizei und Justiz den Mord an Oury Jalloh vertuscht und als Suizid getarnt haben. Auch die CDU Sachsen-Anhalt betont immer wieder, dass sie »entschieden hinter Polizei und Justiz« steht. Ein Untersuchungsausschuss wäre ein Zeichen des Misstrauens gegen den deutschen Rechtsstaat – völlig zurecht. Zur Einstellung des Verfahrens im November 2017 jubilierte Jens Kolze, rechtspolitischer Sprecher der CDU Sachsen-Anhalt: »Klar ist, unser Rechtsstaat funktioniert!«
Währenddessen wurde den die Prozesskosten eines 2015 im Fall Oury Jallohs wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilten Polizisten gänzlich von der Polizeigewerkschaft übernommen, kürzlich wurde bekannt, dass eine Polizistin der Polizeiinspektion Dessau-Roßlau eine innige Brieffreundschaft mit dem Attentäter von Halle führt und schon im Jahr 2007 stellte sich heraus, dass die Dessauer Polizeidirektion über Jahre hinweg Aufklärungsarbeit behinderte, um Verfahren gegen ihre Beamten wegen rechtsextremistischer Umtriebe aktiv auszubremsen. Nicht der Rechtsextremismus in den eigenen Reihen, sondern dessen Aufklärung wird bekämpft – dies zieht sich wie ein roter Faden durch die Chronik der Polizeiinspektion Dessau-Roßlau.
Bei der diesjährigen Bundestagswahl bekam die SPD im Wahlkreis Dessau-Wittenberg 26,2% der Zweitstimmen – circa jede:r Vierte wählte demnach eine Partei, die sich erst vor zwei Monaten mit einer Kehrtwende gegen eine weitere Aufklärung des Mordes an Oury Jalloh ausgesprochen hat. Die CDU erreichte 23.5% – ein weiteres Viertel der Wahlberechtigten wählte demnach eine Partei, die über Jahre hinweg immer wieder Ermittlungen aktiv behindert hat. Die AfD bildet den gesellschaftlichen Rückhalt der Mörder von Oury Jalloh, ebenso den gesellschaftlichen Rückhalt des Attentäters von Halle und aller weiterer rechtsextremen Attentäter der letzten Jahre. Sie erreichte im Wahlkreis Dessau-Wittenberg 19,0% – jede:r Fünfte entschied sich demnach bewusst für eine rechtsextreme Partei, deren Politik vor allem für eines steht: mehr Morde.
Die Linke, die sich als einzige Partei über all diese Jahre überzeugend und stetig für eine lückenlose Aufklärung des Mordfalls eingesetzt hatte, kommt auf 8,5%. Folgt man diesen Zahlen, kommt man zwangsweise zu einer höchst frustrierenden Erkenntnis: Nicht einmal jede:r Zehnte am Ort des Verbrechens zeigt ein aufrichtiges Interesse an tatsächlicher Aufarbeitung rechtsextremer Morde. Diese Minderheit vor Ort zu unterstützen, wäre Aufgabe einer Gesamtgesellschaft, die sich entschieden gegen Rechtsextremismus stellt. Doch es gibt sie nicht. Zum 16. Todestag Oury Jallohs resümierte Die Linke treffend, »dass Aufklärung und Aufarbeitung des Todes Oury Jallohs in Sachsen-Anhalt nicht mehrheitsfähig sind und dass als größtes Problem an Rassismus und Antisemitismus in der Polizei diejenigen wahrgenommen werden, die darüber sprechen.«
2017 hatte die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh versucht, Strafanzeige beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe zu stellen. Die Anzeige wurde abgelehnt, da der Fall nicht geeignet sei, »das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit des Staates, ernsthaft zu beeinträchtigen«. Die Begründung alleine ist ein Schlag ins Gesicht aller Opfer rassistischer Gewalt in Deutschland. Wie soll überhaupt jemand Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates haben, wenn er es nicht schafft, diesen überaus offensichtlichen Mordfall aufzuklären? Oury Jalloh ist bei weitem nicht das einzige Opfer der Gewalt deutscher Behörden. Hans-Jürgen Rose und Mario Bichtemann sind alleine die Namen anderer Todesopfer der Polizeiinspektion Dessau-Roßlau. Qosay Khalaf, Mohamed Idrissi, Mamadou Alpha Diallo, Aman Alizada, Sadnia Rachid, sie alle kamen in den letzten Jahren durch die Polizei ums Leben, viele weitere ebenso. Rassistische Polizeigewalt in Deutschland ist schon lange mit der in den USA vergleichbar. Bloß die Reaktion der Mehrheitsgesellschaft bleibt aus, wieder und wieder.