007: TRUE CRIME HADAMAR
TW: Ableismus, Mord – In einer hessischen Kleinstadt tun sich Abgründe auf.
GEFÄHRLICHES HALBWISSEN 007: TRUE CRIME HADAMAR erscheint als Kollaboration mit Daniel Gerhardt & seinem wunderbaren Newsletter all caps.
»Manche Bahnhof zurück, mit Nago am Zibb
And're sah man nie wieder – Hadamar-Fieber«
– Ćelo & Abdï, »Machu Picchu«, Januar 2021
Manchmal sitzt Hip-Hop wie eine Spinne im Netz und wartet darauf, dass sich die Umwelt verfängt. Die Spinne hat zwar keine Ahnung von dem Baum, an dessen Ästen sie ihre Fäden befestigt, doch der Baum hat einen Stamm, und irgendwie ist er gewachsen. Wer seinen Wurzeln folgt, kann in ungeahnten Tiefen kollektive Realität entdecken.
Oder anders gesagt: Wenn Ćelo & Abdï einen »Kickdown auf der Ignatz-Bubis-Bridge« machen, kann ihnen egal sein, welche Rolle Ignatz Bubis im Frankfurt der Nachkriegszeit gespielt hat und welche Bedeutung ihm für das Selbstbewusstsein deutscher Jüdinnen:Juden oder die Gentrifizierung Frankfurts zukommt. Versteht man diese Dinge aber als Hörer:in, wächst die Schlüsselzeile aus dem Song »IBB« zu gewaltiger Größe und offenbart Subtexte von sozialer Relevanz.
Als Ćelo & Abdï im Januar 2021, sechs Monate nach der Veröffentlichung von »IBB«, ihr jüngstes Album »Mietwagentape 2« herausbrachten, beförderte mich die Zeile »Andere sah man nie wieder – Hadamar-Fieber« einmal mehr in das klebrige Referenznetz des Frankfurter Duos. Mein geschätzter Kollege Daniel Gerhardt meinte zu wissen, es handele sich bei Hadamar um einen Stadtteil von Fritzlar bei Kassel, ein überaus langweiliges Kaff, in dem ein Landwirt 2005 eine Leiche an seine Schweine verfüttert haben soll. Ich zweifelte, denn ich folgte den Fäden und fand den Ortsnamen in anderen Liedtexten wieder. Er wabert durch den Frankfurter Straßenrap, als ständige Referenz an den Absturz.
Daniel lag nur knapp daneben. Hadamar meint im Deutschrap nicht Fritzlar-Haddamar, sondern eine mittelhessische Stadt im Landkreis Limburg-Weilburg. 13.000 Einwohner und eine schöne Altstadt im Tal. Haftbefehl und Xatar, Olexesh, Ćelo & Abdï und Azad interessieren sich jedoch mehr für den benachbarten Hügel, auf dem eine psychiatrische Klinik mit Forensik beheimatet ist. Eine Maßregelvollzugseinrichtung für suchtkranke Straftäter also. Dort landen die Leute aus dem Frankfurter Bahnhofsviertel, diesen »Lauf der Dinge« beschreiben Haftbefehl und Xatar. Es ist ein Elend, jetzt schon, und 90 Prozent der dort inhaftierten Patienten werden rückfällig. Die Abschreckung nach außen, das merkt man in den Texten der Frankfurter Straßenrapper, funktioniert hingegen wundervoll.
Ihre Wurzeln hat die psychiatrische Klinik in der Ansiedlung eines Franziskanerklosters im 17. Jahrhundert an selbiger Stelle. Später entstand eine Hebammenanstalt, noch später eine Korrektionsanstalt, in der hauptsächlich Prostituierte und Obdachlose inhaftiert wurden. 1906 wurde die Institution mit bleibendem Personal zur Landesheilanstalt. Im Zuge der »Aktion T4« wurden dort ab 1941 von den Nazis etwa 15.000 Menschen ermordet, die meisten von ihnen Menschen mit Behinderungen und psychischen Krankheiten. Die Kombination aus vorgeblicher Heilanstalt und Tötungsanstalt war einzigartig, im Keller waren Gaskammer und Krematorium eingerichtet.
Schon 1941, nach der Hochphase der Morde, bauten die Nazis den Schornstein des Gebäudes ab, um ihre Spuren zu verwischen. Bis 1945 wurden in Hadamar trotzdem 5000 weitere Menschen mit Medikamenten ermordet. Sie liegen auf einem angrenzenden Hügel begraben, selbstverständlich in einem Massengrab. Patienten, die noch am Leben waren, mussten die Leichen transportieren und Gräber schaufeln. Zwischenzeitlich waren mehr als 100 Menschen in die Morde von Hadamar involviert – wer in der Gemeinde gelebt hat, muss gewusst haben, was auf dem Hügel passiert. Auch heute noch ist die psychiatrische Klinik die größte Arbeitgeberin in Hadamar. Dass diese Kontinuität möglich war, ist beschämend. Noch beschämender ist die Aufarbeitung der dort begangenen Verbrechen.
Im Ortskern erinnert nichts an die Morde, die hier begangen wurden. Auf dem Marktplatz steht ein Kriegerdenkmal für die Toten des ersten Weltkriegs. Am heutigen Verwaltungsgebäude der Klinik, in dessen Keller sich die ehemalige Gaskammer befindet, wurde 1953 eine kleine Gedenktafel angebracht: »1941 - 1945 – Zum Gedächtnis« steht dort. Erst seit 1991 erinnert eine Gedenkstätte mit Dauerausstellung im Verwaltungsgebäude der Klinik an die Morde. Noch in den Achtzigerjahren behinderte der Landeswohlfahrtsverband Hessen, rechtlicher Nachfolger des Trägers der Tötungsanstalt, die Arbeiten einer studentischen Gruppe zur Aufarbeitung der Verbrechen von Hadamar. Über 40 Jahre nach den Verbrechen fand diese Arbeitsgruppe im Keller der Tötungsanstalt einen bis dato unberührten Raum mit rund 5000 Akten, völlig verstaubt und durchfeuchtet. Bis der Landeswohlfahrtsverband die Rolle der eigenen Vorgängerorganisation im Rahmen der »Aktion T4« zu erforschen begann, vergingen weitere 20 Jahre.
Vom Netz der Spinne zu den Ästen des Baums, den Stamm hinunter, hin zu den Wurzeln, die Kraft aus einem blutigen Boden ziehen. Es ist eine Kontinuität von altdeutscher Zucht und Ordnung, von Behindertenfeindlichkeit und den Morden der »Aktion T4«, die der heutigen forensischen Psychiatrie auf demselben Hügel eine beklemmende Signifikanz verleihen. Wer dort in Behandlung ist, weiß möglicherweise: Vor 80 Jahren wäre der Tod hier, an diesem Ort, sicher gewesen. Und so ist die Legende von Hadamar in den Texten der Frankfurter Rapper eben nicht nur die Furcht vor gesellschaftlicher Ächtung und Ausschluss, sondern erhält auch die grausame Aura dunkeldeutscher Geschichte. Das Netz der Referenzen im Deutschrap, es führt an dieser Stelle direkt zu den historisch gewachsenen Klüften des Landes. Und: Sie lauern überall. Hadamar ist kein Einzelfall.