»Dieser Sommer war für alle da
Mit starken Armen, blauen Augen, kurzem blonden Haar«
– Zugezogen Maskulin, »Sommer Vorbei«, August 2020
In Deutschland hat man’s mit den Jahreszeiten. Einst war es »Springtime for Hitler and Germany«, darauf folgte die soziale Eiszeit. Irgendwann dann »Deutschland im Herbst«, das sich gerade erst wieder entwickelnde nationale Gefühl zutiefst zerrüttet, diese Nachsaison im Jahr 1977 beendete vielleicht oberflächlich das Weiter-So der westdeutschen BRD, aber keinesfalls die deutschen Kontinuitäten. Ein weiterer Herbst folgte der Wende und spätestens seit dem Sommermärchen 2006 weht die Flagge nun ganzjährig vom Balkon, Deutschland ist ständig Weltmeister in irgendwas, das ganze Land berauscht von Sonnenstich und Euphorie. Wie hieß es so schön bei Grönemeyer: »Zeit, dass sich was dreht«.
Vince Staples erlebte in Long Beach, California 2006 einen ganz anderen Sommer. »Summertime ‘06« erzählt von Gangkriminalität, vom emotionalen Tod und der Absage an jeglichen Optimismus. Und dann gibt es den Song »Summertime«, ein Liebeslied, oder jedenfalls etwas, das dem nahekommt. Ein Eingeständnis, dass es so etwas wie Liebe gibt. Vince Staples schleppt sich über den Beat, die nervösen Synthies bieten warme, tiefe Traurigkeit, während das Brummen der Bassline jedes Licht schluckt. Die Liebe ist das einzige, was die Welt des Rappers hier noch zusammenhält, sie darf nicht aufhören: »This could be forever, baby«.
Vince Staples’ »Summertime« gab Grim104 schon 2017 den inspirierenden Funken, einen düsteren Sommersong zu schreiben. Während die Tulpen blühen, die Rapper auf Festivalbühnen tausende Fans bespaßen und das ganze Land konsumiert und genießt, versucht Grim104, die innere Leere zu füllen. Er verliert sich dabei aber nicht in der melancholischen Ohnmacht einer Lana Del Rey, sondern bewegt sich als düsterer Mittelpunkt durch die sonnenbeschienene Welt, die Depression steigert sich und wartet auf das Ende des Sommers. Was bei Vince Staples noch in Unendlichkeit münden konnte, ist bei Zugezogen Maskulin mit absoluter Sicherheit vergänglich.
Wo Die Ärzte noch 2003 in ihrem designierten Sommersong fragten, ob die Sonne auch für Nazis scheine, ist nach der ersten Strophe sicher, dass die Sonne erstmal für alle außer Grim104 scheint. Testo konstatiert dann in der zweiten Strophe, dieser Sommer sei nur genießbar für diejenigen »mit starken Armen, blauen Augen, kurzem blonden Haar«. In einem Artikel für den Freitag schrieb Testo 2019 über seine Erinnerungen an die Neunziger Jahre in der ehemaligen DDR, in denen es cool war, rechts zu sein und Nazi-Gangs die Straßen unangefochten beherrschten. Die Aufbruchsstimmung der Wende mündete in einen großdeutschen Sommer, in dem alle um ihr Leben fürchten mussten, die von der faschistischen Norm abweichen. Von diesen Erfahrungen erzählt Testo auch auf »Sommer Vorbei«, von einer »Flamme, die uns küsste und heut' wieder nach dir greift«. Die gelbe Sau am Himmelszelt droht jederzeit, alles in Brand zu stecken.
Musikalisch orientiert sich »Sommer Vorbei« durchaus an den großen Sommerhits der letzten Jahre. Ein treibender Beat, die typisch rasselnden Bazzazian-Type-Hi Hats und ein freundlicher Synthie, der traurige Töne spielt. In ihrem Podcast Switched on Pop untersuchten Musikwissenschaftler Nate Sloan und Songwriter Charlie Harding 2018 die DNA von Sommerhits und kamen zu dem Schluss, dass ein Song besonders hot und sommerlich klingt, wenn eine tiefe Basisnote auf hohe, angespannte Dissonanzen trifft. Dieses Prinzip findet sich nicht nur bei Nellys »Hot In Herre«, sondern selbstverständlich in leichter Abwandlung auch bei Vince Staples und Zugezogen Maskulin.
Und wie der jahrhundertealte pedal point musikalische Spannung schafft, schweben die hohen Töne des Sommers in beängstigender Dissonanz über dem düsteren Brummen deutscher Kontinuitäten. Deutschland scheint farbenfroher und liberaler als je zuvor, doch die universelle Freiheit erreicht nicht die Opfer des NSU, nicht die Opfer von Halle, Hanau, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen. Das neue Deutschland war schon zum Scheitern verurteilt, als in der DDR lange ignorierte und verdrängte Nazis 1987 die Zionskirche bei einem Element Of Crime-Konzert überfielen und riefen: »Keine Juden in deutschen Kirchen«. Die »Traditionen von Schweigen und Gewalt« machten den deutschen Sommer erst möglich. Und deswegen sind die Worte, die May Ayim zum Tod von Antonio Amadeo schrieb, für immer eingraviert in unseren Hinterköpfen:
»deutschland im herbst
mir graut vor dem winter«