Triggerwarnung: Tod. In diesem Text wird der Tod eines engen Familienmitglieds behandelt. Wenn Ihr merkt, dass ihr selbst oder jemand anderes professionelle Hilfe zur Trauerbewältigung braucht, könnt ihr Euch an Beratungsstellen wie die Notfallseelsorge oder die Telefonhilfe für Trauernde (Tel. 0700 – 70400400) wenden.
»Anstatt mich um die Realität zu sorgen
Fragte ich mich: ›Warum ist Papa an Krebs gestorben?‹«
– Huss & Hodn, »Pappmensch«, Juni 2007
Ich war vielleicht 15 Jahre alt, wahrscheinlich im Jahr 2012. Ich saß in der Straßenbahn, mit der ich jeden Tag in die nächstgrößere Innenstadt fuhr, und einige Wochen oder Monate zuvor hatte mir meine liebe Freundin Lena einige Dateien geschickt. In einem Ordner namens »Lenaschicktmirwas« ist bis heute das Album »Jetzt schämst du ich!« des Duos Huss & Hodn abgespeichert, dieses 2007 erschienene kompromisslose Untergrund-Manifest. Während mein iPod alle Songs zufällig wiedergab, schlich sich »Pappmensch« zum allerersten mal in meine Ohren. Ich weinte, denn ich fühlte mich verstanden.
Einige Monate zuvor war mein Vater gestorben, ich war 14 Jahre alt. Man fragte mich, ob ich mich in Therapie begeben wolle, ich verneinte, denn selbstverständlich kannte ich niemanden, der meine Gefühle nachvollziehen konnte und so ging ich auch davon aus, dass auch ein:e Therapeut:in nicht dazu fähig wäre. Als ich mich, einige Jahre später, tatsächlich in Therapie begab, stellte sich heraus, dass die behandelnde Ärztin in Berlin meinen Vater kannte, auch das ist absurd, hat aber wahrscheinlich geholfen. Aber dieser Nachmittag in der Straßenbahnlinie 4, das war wohl mein erster therapeutischer Moment. Retrogott in meinem Ohr: »Im Endeffekt muss jeder mal so was durchmachen«, und ich wurde mild.
Alleine die ersten Zeilen des Songs: »Es war ein harter Tag / An dem mein Vater starb / Und seitdem gab es mehrere harte Tage / Mit den meisten Menschen kann ich nicht viel anfangen / Der einzige mit dem ich reden will ist gegangen«. Ja, tatsächlich, so fühlte ich mich und in der depressiven Trauer-Ignoranz glaubte ich bis dato nicht, andere wären imstande, gleich zu fühlen. Ich fühlte mich wie die Figuren George Segals, auf die sich der Titel des Stücks bezieht, im Tanz erstarrt, zuweilen zerschmettert und manchmal als dem Leben nachempfundener, aber lebloser Außenstehender. Bis heute begleitet mich »Pappmensch« durchgehend und bis heute zeige ich dieses Lied nur denen, von denen ich mir wünsche, sie würden mich verstehen.
Retrogott, bürgerlich Kurt Tallert, schrieb das Stück im Alter von 18, vielleicht 20 Jahren, im Text schlägt immer wieder die empfindsame und trotzdem kalte Isolation des Zwölfjährigen durch, der den Verlust des Vaters als großes Unrecht wahrnimmt. Nicht zuletzt deshalb bot und bietet »Pappmensch« so viel Identifikationspotenzial, in der retrospektiven Momentaufnahme stecken Gefühle, die überdauern. Und alleine im Wechselspiel zwischen dem gealterten Lied und mir, dem gealterten Rezipienten, zeigt sich deutlich, wie wenig ein solcher Verlust jemals abgeschlossen ist. Oder wie Retrogott es in einem Talk bei der Katholischen Akademie DIE WOLFSBURG ausdrückt: In den 23 Jahren, die er nun ohne seinen Vater verbrachte, habe er »mindestens noch genauso viel gelernt [...] wie in der Zeit, die [er] mit ihm hatte.« Retrogott und ich, wir sind uns in diesem Punkt einig: Nicht nur gesellschaftlich, auch privat darf es keine Schlussstrichmentalität geben.
Dabei, und jetzt bin ich ganz bei mir, ist die intensivierte Auseinandersetzung mit dem Tod keine Hoffnung auf etwas Größeres, sondern immer eine Abgrenzung vom Jenseits. Eine absolute Lebensbejahung, die sich daraus schöpft, dass der Tod mit Sicherheit folgt. »Das Leben besteht nur aus Momenten, aber mir kommt’s auf jeden an / Denn die Momente dauern immerhin dein Leben lang«. Hier lebe ich, hier liebe ich, hier hasse ich. Und meine Gedanken und Handlungen, in diesem Leben, fokussiere ich nicht auf etwas, das vermeintlich folgt, sondern darauf, mich und andere zu verstehen, mir und anderen ein gutes Leben zu ermöglichen.
Aber natürlich, diese Erfahrung, die ich mit Kurt Tallert teile, sie stumpft auch ab. Wenn er rappt: »Mir geht sehr vieles im Leben am Arsch vorbei«, dann kann und konnte ich auch das fühlen. Früher aus jugendlich-betroffener Ignoranz heraus, heute aus der Erkenntnis, dass auch ich meine Grenzen habe, meine Kapazitäten und meine Kämpfe. Und auf der anderen Seite die Notwendigkeit, die eigene Abstumpfung zugunsten der Empathie zu überwinden. Konkret zu fühlen und abstrakt zu denken, das muss immer gesellschaftliches und persönliches Ziel sein – auch wenn wir immer wieder Erfahrungen machen, die uns Steine auf diesen Weg legen. Und vielleicht sind genau solche klaren Lieder wie »Pappmensch« und die mit Rap verbundenen Möglichkeiten genauer Aussagen und emotionaler Bilder die große Chance zu mehr Empathie. Oder, wie es Johannes Liess 2016 in seiner Masterarbeit »Das Religiöse in der Kunst: Sinnstiftung und Bedeutung in der Musik des Retrogottes« formulierte: »Wir teilen das Schicksal, uns zum Unfassbaren verhalten zu müssen, und auch ohne selbst Texte zu schreiben, sehen wir diese Möglichkeit der Transzendenz durch die Kunst als die unsere an.« Die Welt zu reparieren bedarf der Nutzung all dieser Möglichkeiten: »Es ist nur wichtig, dass du dich nicht von der Realität entfernst«.
003: PAPPMENSCH
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